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Brief

Eine Kostbarkeit der Historie: Der Brief von General Grey Wolf an seine Geliebte.

In einem amerikanensischen Volksmuseum, das viele Schätze aus vergangenen Jahren, unliebsame Erinnerungen und interessante Absonderlichkeiten zu bieten hat, findet sich eine auf natürlichem Wege mumifizierte Leiche, in deren Nähe eine röhrenförmige Schatulle aus Hartholz gefunden wurde. Man ordnete sie ihr zu, nur wusste man nicht genau, ob sie absichtlich dort drapiert oder durch den Moment des gewaltsamen Todes ins aufgerissene Erdreich und mit ihm in einen jahrhundertelangen Schlaf fiel.

Aus Ehrfurcht hatte man ihm sein an einer fein gegliederten Kette befindliches Mandala, das einen Fisch darstellt, aus dem sich in den weiteren Kreisabschnitten nach außen hin ein Vogel entwickelt, nicht abgenommen, denn, so stellte sich bald heraus, man hatte es hier mit dem wohl innigsten Freund des legendären General Grey Wolfs zu tun, der in den geschichtlichen Aufzeichnungen die seltsame Doppelrolle von glorreichem Präsident und tragischer Gestalt zu spielen schien: Tecumseh Blue Cloud .

Nun war das amerikanensische Volk geschichtsbewusst und auch die Nachkommen indianischer Völker, die grundsätzlich respektiert wurden, hatten ein Einsehen, zwar nicht die Leiche an sich, aber die Kleidung und diese merkwürdige Schatulle endlich untersuchen zu lassen. Nachdem man sie vorsichtig geöffnet hatte und unendlich fein erscheinender Staub sich mit dem Winden aus dem Deckel löste, schlug dem untersuchenden W. Erhart ein merkwürdiger papierner Geruch entgegen. Es täuschte nicht. Mit einer Pinzette und heissem, unregelmäßgem Atem hielt er ein Stück altertümlichen Papiers, hastig zusammengefaltet und bräunlich geädert an den Ecken und legte es vorsichtig auf den Tisch in seinem Labor.

Sollte endlich Klarheit in die Umstände der Beziehung zwischen Tecumseh Blue Cloud und Grey Wolf kommen? Sollte die seltsame Diametralität und Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Herrscher Blue Cloud und General Grey Wolf und des damit verbundenen, fast liebevollen Kommandogehorsams, der Hörigkeit Blue Clouds gegenüber Grey Wolf durch neue Erkenntnisse verständlicher werden?

Sollten sich etwa Dinge klären lassen, die mit dem russisch-amerikanensischen Krieg zu tun haben - oder war es nur allzu Privates von nur intimer Eindringlichkeit?

Erhart zitterte etwas und setze sich hin. Das Papier knarzte etwas, als er es auseinanderbog, feine Risse entstanden an den Knicklinien. Mit Lupe und schweisser Stirn fing er an zu lesen:


20. Dezember 1618

Vielleicht, ja vielleicht, wo ich hier hocke, wo ich vor Schmerzen kaum stehen kann und wo ich einfach und vielleicht billig von meinem Traum erzählen will, weil ich nicht mehr an die gute Wendung glauben kann, pessimistisch geworden bin, obwohl ich Dich liebe - vielleicht werde ich den Brief zu Ende bringen, was nicht immer so nötig ist, weil man damit auch immer im eigenen Dialog ist - vielleicht kann ich mich damit beruhigen- vielleicht wird er Dich erreichen.

Das wäre eine Belohnung für mich, es nur zu wissen. Ich habe Tecumseh, mein herzlichsten und innigsten Freund gebeten, ihn Dir zu überbringen. Ich habe noch etwas gut bei ihm, für einige gute Ratschläge. Das Letzte, was ich von Dir hörte, war nicht sicher: warst Du aus Newburyport evakuiert worden oder hattest Du Dich dem Feind gestellt - vielleicht bist Du jetzt auch in Brookline....? Er wird Dich finden! Stammesmitglieder, die in Deiner Gegend waren, kamen entweder nicht zurück oder hatten nur Gerede vorgefunden, aber nicht Dich.

Little Kamtschtka

Meine Liebe, auch wenn Du es nicht mehr magst, es nicht mehr brauchst, dass ich dieses in der Vergangenheit verkapselte Unwort noch einmal unter die Feder nehme, denn sähest Du die Umstände hier, unter denen ich schreiben muss, dann würdest Du mir vielleicht recht geben, dass man nur im Zustand absoluten Ausgeliefertseins und schlimmer Verzweifelung gerade dem tiefe Gedanken, wenn auch mit aussichtsloser Sehnsucht und voll jener Empfindung namentlich jenes Unwortes dann auch nur dem zu schenken bereit ist, denn es wahrlich trifft.

Es ist alles aber einfach zu schrecklich, wie leicht man sich leiten lässt und wie enttäuscht man doch sein kann. Vielleicht gehe ich in die Geschichte ein, den Feind gerade hier richtig erwartet zu haben: im Ergebnis zogen die verdammten Russen tatsächlich über die in den Mythen meines Volkes so berühmte Mosquito-Straße, um sich in Little Kamtschtka an Land zu trollen. Doch die, die in die Geschichte eingehen, sind dann schon meist so gut wie tot, denn dann waren wir viel zu schwach!

Die tapferen Soldaten mussten zunächst trotz Eis und Schnee ihr Jubeln unterdrücken und klopften sich still auf die Schultern, Tecumseh umarmte mich still und warm und lächelte mich an. Doch soll man nie den Fehler machen, sich vom Schicksal zu verwöhnt zu sehen. Kanonengewitter rissen Löcher in die künstliche Stille und die Leiber meiner so geliebten Männer. Es schien, als gäbe es keine Möglichkeit, sich wirkungsvoll zu wehren, als mit verzweifeltem Mut hinter Sträuchen den Feind mit den besten Schützen und Repitiergewehren punktuell auszuschalten zu versuchen.

Glaub mir, es war so zäh und nichts lässt mich je wieder daran glauben, dass es eine Gerechtigkeit gibt: auch Gute sterben zu früh! Tecumseh musste mich in die hintere Flanke zerren, die sich beständig unter schwerem Beschuss aufzulösen begann. Zeit, ach, was hätte ich für Zeit gegeben: so kostbar und so fern wie mancherlei anderes: was Du im Moment wohl machst...

Es ist eisig - der Schnee ist gefroren und es ist, als ob Glas bräche, wenn man sich flinken Schrittes bewegt, leider nur zu verräterisch, leider können wir nur dagegenhalten, gegen die Mord- und Todesmaschinerie, die sich vom Ufer aus auf uns zuwindet, wie ein gewaltiger Wurm. Wir haben keine Ärzte mehr. Sie befinden sich jetzt auf einer kleinen Landzunge, die über die Uferflucht Little Kamtschatkas herausragt und von einigen geringen Höhen umarmt wird, auf denen wir liegen. Dieser kleine strategische Vorteil hat uns bisher das Leben gerettet, doch sind wir auch wie Spatzen vor ihrer Gewalt.

Siehst Du, jetzt hörst Du mir JETZT schon zu und folgst meinen Worten, ich wollte Dir aber Schöneres erzählen, ich träumte von Dir, egoistisch und schön, von unseren ersten Tagen, in denen wir uns kennengelernt haben, kannst Du mir wenigstens im Vakuum vergangener Zeit ganz mit lächelndem Herzen folgen? Wir gingen Hand in Hand von dem Punkt des Arauca-Rivers im Frühling und erzählten uns Geschichten darüber, was wir machten, wenn wir einst alt sein werden: so kühn, dass wir lachen mussten!

Damals hatte ich Pläne, ein militärischer Führer zu werden und als Held in die Geschichte einzugehen, über mein geliebtes Grasland mit Joshta zu reiten und ihm ab und an die Mähne zu liebkosen... und so blieben wir an dem Punkt stehen, von dem aus wir lange ins Wasser starrten, mit meinem Vater reisend, der nicht mehr zurückgekommen war; erwartete ich ihn doch immer noch hier, wie ich es als Kind schon still und fest geglaubt, obgleich es keine Hoffnung mehr gegeben hatte. Die Magie des Ortes im Schleier meiner träumerischen Erinnerung liess mich aufwachen und mich ahnen, dass etwas auf uns zukam, nicht der ersehnte Vater, sondern etwas Gefürchtetes. So wie Schrecken und Freude immer miteinander verwandt sind.

Ja, es war nicht richtig, so lange zu schweigen, nicht darauf zu bestehen, was existenziell wichtig war, das ist mir auch jetzt ein großer Nachteil und Hunderten anderen. Meine Schuld. Hätte ich doch nur darauf gedrungen, mehr Truppen von Blücher und Grant für den von mir prognostizierten Einfall zu bekommen, es wäre mir gelungen!

Den Fehler werde ich nicht mehr machen, mit zu wenig Vehemenz für den Rückzug bei Tecumseh eingetreten zu sein, ja Du liest richtig. Das hat hier keinen Zweck.

Stündlich müssen wir weichen. Schon wieder 500 Meter ins Land. Ich musste das Schreiben unterbrechen. Ich bewege mich zurück und im Kreise.

Hätte ich Dir doch nur gesagt, dass ich verheiratet bin und auch Kinder habe, es schien alles so leicht mit Dir, war so verwerflich unverstellt schön und berauschend, dass ich mit Dir egoistisch kosten wollte. Und jetzt strafst Du mich mit Ignoranz und das kann ich verstehen, doch hoffe ich, dass Du vielleicht irgendwann verzeihen kannst. Vielleicht erst im nächsten Leben, Tamira.

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